Über ein subjektiv-idealistisches Fehlurteil bei einem „kritischen Materialisten“

von Otto Finger

Diese genannten, unabdingbaren, zunächst ganz naturwüchsigen Voraussetzungen müssen gegeben sein, ehe von der Entwicklungsgeschichte der Produktivkräfte die Rede sein kann. Die genannten Voraussetzungen und Bedürfnisse bilden den notwendigen Ausgangspunkt der Entfaltung der Produktivkräfte. Sie sind vom Willen, von den Vorstellungen, den Ideen der Menschen zunächst ganz unabhängig. Ebenso bewusstseinsunabhängig – zunächst selbstredend auch praxisunabhängig – ist die Natur für die Entwicklung der Produktivkräfte vorausgesetzt. Die Produktivkräfte bilden ein spezifisches geschichtliches Verhältnis des Menschen zur objektiven Natur. Dass es keine erkannte Natur ohne erkennende Subjekte, keine angeeignete Natur ohne aneignende Wesen, keine praktisch veränderte Natur ohne praktisch arbeitende Menschen, keine menschlichem Bedürfnis gemäß umgestaltete Natur ohne gesellschaftliche Produktionstätigkeit gibt, scheint selbstverständlich. Und es ist eine Tautologie.

A. Schmidt nennt es einen „kritisch, nicht weltanschaulich-dogmatisch verstandenen Materialismus“, wenn er die Unmöglichkeit betont, „etwas über die gegenständliche Welt auszumachen unter Abstraktion von den Formen ihrer praktisch-geistigen ,Aneignung’ durch die Gesellschaft, ohne deshalb die Objektivität unseres Wissens historisch, skeptizistisch oder agnostizistisch zu bestreiten“. [1/187]

Näher äußert sich Schmidt hierzu in dem Essay „zum Verhältnis von Geschichte und Natur im dialektischen Materialismus“. Hier wird als „Diamat-Ontologie“, als weltanschauliche „Dogmatik“, als „Sowjetorthodoxie“ verschrien, was in der Tat gemeinschaftlicher Standpunkt von Marx und Engels ist: Dialektik gut universell, umgreift Natur und Geschichte. Naturdialektik und Dialektik des Sozialen weisen – als allgemeinste dialektische Bewegungsgesetze der materiellen Welt formulierbare – gemeinsame Züge auf. Marx hat, wie bekannt, Engels’ „Anti-Dühring“ vor der Publikation gelesen. Im „Anti-Dühring“ ist der genannte Standpunkt vielfältig entwickelt. Marx stimmt ihm zu. Die Berufung auf Marx ist darum in diesem Punkt also Leugnung von Naturdialektik und Leugnung der konsequent materialistischen Voraussetzung einer bewusstseinsunabhängigen und praxisunabhängigen Natur. Schmidt verneint die Möglichkeit, dass es eine Dialektik der an sich seienden Natur als materialistische gebe. Er stimmt Merleau-Ponty, Sartre, Hyppolite und anderen Marxismuskritikern zu, wenn sie die Unverträglichkeit zwischen Materialismus und Dialektik behaupten, sofern unter Natur verstanden werde, was die exakten Naturwissenschaften über sie ausmachen. [2/188]

Schmidt macht klar, worum es ihm im politisch-ideologischen Kern der ganzen Erörterung über „Objektivität“ oder „Subjektivität“ von Dialektik, dialektischen Gesetzen geht: Die Argumentation richtet sich gegen die von Marx, von Engels, von Lenin wiederum völlig übereinstimmend entwickelte materialistisch-dialektische Grundauffassung, dass die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Gesellschaft, gerade weil sie eine Geschichte der materiellen Produktionstätigkeit, der Naturaneignung, der materiellen Widerspruchsdialektik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ist, eine von objektiven, bewusstseinsunabhängigen, nicht durch Bewusstsein gesetzten, wohl aber unter bestimmten Bedingungen erkennbaren Gesetzen determinierte Geschichte ist. Marx’ Lebenswerk lässt sich nach der theoretischen Seite sehr wohl in eben dieser Leistung zusammenfassen: Nachweis der Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft, insbesondere des Kapitalismus und seines revolutionären Sturzes.

Dass soziale Entwicklungsgesetze nur in der vorsozialistischen Geschichte als fremde Macht wirken und mit der sozialistischen Vergesellschaftung beherrschbar werden, setzt ihre Objektivität und Materialität nicht außer Kraft. Es sei denn, Objektivität und Materialität wird mit Entfremdung in eins gesetzt. Gewusste, geplante, beeinflusste, menschlichem Bedürfnis dienstbar gemachte Realität hört nicht auf, objektive, von notwendigen, gesetzmäßigen Beziehungen beherrschte Realität zu sein. Dafür, dass natürliche und soziale Prozesse beherrscht werden können, ist gerade vorausgesetzt, dass objektive Gesetze gegeben sind und erkannt werden. Es ist also keineswegs ein „Aberglaube“ des sogenannten „Stalinismus“, die unverbrüchliche Objektivität der historischen Gesetze anzuerkennen. [3/189]

Bei Überwiegen des subjektivistischen Relativierens von Naturgesetzlichkeit schwanken Schmidts Formeln zwischen Bejahung und Verneinung der Objektivität der Natur hin und her. Zu der in der thomistischen Marxliteratur vorkommenden Redeweise, Marx sei erkenntnistheoretischer Realist (das heißt, Marx erkenne die Realität der Außenwelt und ihre Abbildbarkeit an), vermerkt Schmidt: „Er ist es, soweit jede produktive Tätigkeit das unabhängig von den Menschen bestehende Naturmaterial voraussetzt. Er ist es nicht, da jene nicht in Feuerbachscher Anschauung des Unmittelbaren verharren, sondern es im Rahmen seiner Gesetze ununterbrochen transformieren … Weil immer schon durch geschichtliche Arbeit filtriert, stellen die unabhängig vom Bewusstsein existierenden Dinge gerade in dieser Unabhängigkeit etwas Gewordenes dar, ein Für-Uns übersetztes An-sich. Damit entfällt auch die primitive Vorstellung von der Erkenntnis als Abbild, bei der Bewusstsein und Gegenstand einander schroff entgegengesetzt werden und die für letzteren konstitutive Rolle der Praxis außer acht bleibt. Die gegenständliche Welt ist kein bloß abzubildendes An-sich, sondern in hohem Maße ein gesellschaftliches Produkt.“ [4/190]

Der erste dieser Serie von Sätzen ist richtig: Marx setzt die objektive Natur als Grundlage jeder produktiven Tätigkeit voraus. Die nachfolgenden Sätze sind falsch. Das „Transformieren“ von Naturgegenständen durch Produktion widerspricht nicht dem Sachverhalt ihrer Objektivität, sondern ist eine spezifisch menschliche Weise ihrer Bestätigung. Keineswegs sind alle bewusstseinsunabhängigen Dinge durch geschichtliche Arbeit „filtriert“. Eine wesentliche Seite gesellschaftlicher Produktionstätigkeit ist doch das Aneignen von noch nicht durch Arbeit hindurchgegangenen Naturobjekten. Praxis „konstituiert“ nicht Gegenstände schlechtweg, sondern bestimmte Gegenstände und Verhältnisse. –

Wenn die Vorstellung primitiv sein soll, dass Bewusstsein Gegenstände ohne Praxis widerspiegeln könne, so haben dies weder Marx, noch Engels, noch Lenin oder irgendwelche marxistische „Orthodoxe“ angenommen. Sie betonen vielmehr die materielle Produktionstätigkeit als Fundament allen Erkennens. Allerdings setzen sie dabei Bewusstsein und Gegenstand soweit „schroff“ auseinander, als Bewusstsein nicht Sein, Idee nicht Tat, Theorie nicht Praxis ist. –

Was den letztzitierten Satz anlangt, sei dies vermerkt: Es kommt sehr darauf an, was man mit „gegenständlicher Welt“ und mit „in hohem Maße“ gesellschaftlich produziert meint. Wenn gegenständliche Welt objektive Realität, die Materie, unendliches, unerschöpfliches Universum ist, dann konvergiert das in ihr gesellschaftlich Produzierte gegen Null. Oder aber man schließt, in gleichsam vorcopernicanischer Denkweise die Erde als Zentrum setzend, den materiellen Kosmos aus der gegenständlichen Welt aus, verwandelt ihn in eine bloße Bewusstseinstatsche. Dann gewinnt die Redeweise eine gewisse Berechtigung. Freilich bleibt sie auch für die Betrachtung unseres Erdballs höchst ungenau und fragwürdig. [5/191] –

Wenn man unter Dogmatismus und Orthodoxie das Festhalten an überholten Ideen versteht, so haben wir es in den skizzierten Standpunkten damit zu tun: In der Hülle einer teilweise Marxschen Terminologie bewegen sich die von Marx materialistisch-dialektisch überwundenen idealistischen Anschauungen eines Hegel, auch eines Fichte. Es sind Ideen einer „Subjektivität“ des Menschen, die über ihre idealistische Fehldeutung nicht prinzipiell hinauskommt.

Der Marxsche Begriff von Produktion und von Produktivität ist entgegen marxologischer, „kritisch-theoretischer“ und „praxisphilosophischer“ Missdeutung ein konsequent materialistisch dialektischer. Er setzt, wie gezeigt wurde, die Objektivität der Natur und ihrer Gesetze voraus.

Es ist ferner in dem Sinne ein historisch-dialektischer und ein sozialer Begriff, als es in ihm nicht primär um Dinge, Sachen geht, sondern um Tätigkeit und Beziehung, um materielle Tätigkeit des gesellschaftlichen Menschen, die sich in Produktionsinstrumenten vergegenständlicht. –

Der Begriff Produktivkräfte umfasst das gesellschaftliche Verhältnis zur Natur und bestimmte Seiten der Verhältnisse der Menschen zueinander. [6/192] Er wird durch letzteres nicht identisch mit dem Begriff Produktionsverhältnisse. Wohl aber begreift er damit das zusammenwirken der Menschen in der Produktion als eine produktive Kraft ein. Ferner wird hierdurch deutlich, dass Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse nicht metaphysisch auseinandergesetzt werden können. –

Nach Karl Marx und Friedrich Engels fasst sich die Geschichte auf jeder Stufe in einem „materiellen Resultat“ zusammen. Auf jeder Stufe findet sich „… eine Summe von Produktionskräften, ein historisch geschaffenes Verhältnis zur Natur und der Individuen zueinander, die jeder Generation von ihrer Vorgängerin überliefert wird, eine Masse von Produktivkräften, Kapitalien und Umständen, die zwar einerseits von der neuen Generation modifiziert wird, ihr aber auch andrerseits ihre eignen Lebensbedingungen vorschreibt und ihr eine bestimmte Entwicklung, einen speziellen Charakter gibtdass also die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen.“ [7/193]«

Anmerkungen

1/187 A. Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt/M. 1971, S. 208 (Postscriptum zur ergänzenden Neuausgabe).

2/188 Vgl. ebenda, S. 177.

3/189 Vgl. ebenda, S. 202. »Schmidt bezieht sich auf die Arbeit über „Die ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR“ und meint, Stalin habe behauptet, dass soziale Gesetze unabhängige vom Willen der Menschen wirken und sich in nichts von denen der Natur unterscheiden. Es sei hier nur beiläufig vermerkt, dass letzteres eine Fälschung ist. Schmidt spekuliert hier offenbar auf die Gutgläubigkeit des Lesers, der – angesichts der bekannten Kritik theoretischer Vereinfachungen durch Stalin – bereit sein soll, einen nunmehr durch Marxologie auch noch verfälschten Stalin für den Kronzeugen einer vorgeblich durch Engels eingeleiteten Fehlentwicklung hinzunehmen. Stalin also wäre als „Vollender“ der Engelsschen Konzeption von der Objektivität der Gesetze zu sehen. Tatsächlich hat Stalin in der genannten Arbeit richtig darauf hingewiesen, dass zum Unterschied von den Gesetzen der Naturwissenschaft auf ökonomischen Gebiet die Entdeckung und Anwendung eines neuen Gesetzes, das die Interessen der ablebenden Gesellschaftskräfte beeinträchtigt, auf deren stärksten Widerstand stoße

4/190 Ebenda, S. 205.

5/191 »Wo Marx gegen Feuerbachs „anschauenden“ den „tätigen“ Materialismus setzt und die Erzeugung einer gegenständlichen Welt durch den gesellschaftlich produzierenden Menschen betont, unterstellt Marx keineswegs, dass alle gegenständliche Welt vom Menschen gemacht wäre. Genauer spricht Marx von folgendem: Feuerbach übersähe „wie die ihn umgebende sinnliche Welt (Hervorhebung O. F.) nicht ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding ist, sondern das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes, … dass sie ein geschichtliches Produkt ist …“ (K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, S. 43.) Im gleichen Zusammenhang betonen Marx und Engels: „Allerdings bleibt dabei die Priorität der äußeren Natur bestehen …“ (Ebenda, S. 44.)«

6/192 »Wenn Bollhagen und Stiehler von Produktivkräften als dem Verhältnis zur Natur sprechen und dies als Definition anführen, wird die Kategorie vereinfacht und vereinseitigt angewendet. (Vgl. P. Bollhagen/G. Stiehler, Widersprüche als Quelle des historischen Fortschritts, in: DZfPh, Heft 2/1972.«

7/193 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 3, S. 38 (Hervorhebung von O. F.).

Quelle: Philosophie der Revolution, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologien der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 5.26. Über ein subjektiv-idealistisches Fehlurteil bei einem „kritischen Materialisten“, in: 5. Kapitel: Dialektik der Revolution.

30.07.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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