Lenins Charakteristik des philosophischen Wesens der wissenschaftlichen Gesellschaftstheorie

von Otto Finger

Lenin charakterisiert das philosophische Wesen der wissenschaftlichen Gesellschaftstheorie – und der wissenschaftlichen Weltanschauung überhaupt – stets so, dass er den Materialismus als die alles durchdringende Seite mit der Dialektik vereinigt. Lenin betont: Die marxistische Lehre „stützt sich erstens auf die materialistische Geschichtsauffassung und zweitens auf die dialektische Methode“ [1/30]. Lenin nennt die dialektische Methode „den zweiten Grundpfeiler des Marxismus“. [2/31] Er verteidigt in der Arbeit über die Volkstümler beide Grundpfeiler der revolutionären sozialistischen Ideologie, den Materialismus und die Dialektik, gegen ihre Verfälschung durch positivistisches und subjektiv-idealistisches Denken.

Der allgemeinste philosophische Schwerpunkt der Leninschen Verteidigung der Marxschen Dialektik liegt darin, ihren objektiven und antispekulativen Charakter nachzuweisen. Die Theorie der Revolution – als eine Theorie der notwendigen dialektischen „Sprünge“ im sozialen Entwicklungsprozess – hängt in ihrer Wissenschaftlichkeit genau hiervon ab. Die gegenrevolutionäre Tendenz aller Angriffe gegen die Marxsche Dialektik ist in folgendem verwurzelt: Indem die Objektivität von Dialektik, die dialektischen Bewegungsgesetze in Natur und Gesellschaft geleugnet werden, soll der Anspruch der Revolutionstheorie – als einer Theorie politisch konkretisierter Dialektik – auf Objektivität und Wissenschaftlichkeit in Frage gestellt werden. Sie soll eher als eine spekulative Konstruktion nach Hegelscher Manier denn als adäquate Widerspiegelung objektiver Widerspruchsverhältnisse und ihrer Entwicklungstendenzen erscheinen. Lenins Zurückweisung der Einwände Michailowskis trifft so in ihrem Kern auch die Argumentationsweise und die politische Absicht heutiger Antidialektik. Michailowski hatte behauptet, der „ökonomische Materialismus“ – sprich die materialistische Geschichtsauffassung – stütze sich außer auf die Entdeckung der bestimmenden Bedeutung der Produktionsformen auf die „,Unanfechtbarkeit’ des dialektischen Prozesses“.[3/32] Lenin nennt dies eine „schablonenhafte Beschuldigung“ des Marxismus. Dem Marxismus wird dabei ein solch schablonenhaftes Hantieren mit der Dialektik unterstellt, wie es dem Hegelschen System des objektiven Idealismus, seinen spekulativen Konstruktionen tatsächlich eigen ist. Keineswegs aber der Marxschen Dialektik. Lenin charakterisiert die noch immer befolgte Methode der bürgerlichen Marxkritik so: Sie vermengt die „Marxsche Ausdrucksweise“, d. h. die in vielen Partien seines Werkes an der Sprache der Hegelschen Dialektik orientierte Terminologie mit dem Hegelschen Inhalt selbst. Die bürgerliche Marxkritiker würden sich an diese Ausdrucksweise klammern, sie griffen „den Ursprung der Theorie an, in der Hoffnung, damit ihren Wesensinhalt in Frage stellen zu können“ [4/33].

Lenin bekräftigt den schon von Engels gegen Dühring gesetzten Standpunkt, dass es Marx nie eingefallen sei, mittels einer Hegelschen Triade, mittels des Hegelschen Schemas von Affirmation – Negation – Negation der Negation irgend etwas beweisen zu wollen. Dass solche Entwicklungsreihen in Natur und Gesellschaft vorkommen, werde durch die exakte Forschung bestätigt. Lenin führt hierfür zwei bekannte Beispiele an. Das eine betrifft die übergreifende Entwicklungslinie des philosophischen Denkens der Menschheit und entstammt dem „Anti-Dühring“ von Friedrich Engels. Am Beginn steht der „naturwüchsige Materialismus“ der alten Griechen (Affirmation). In einem nächsten großen Entwicklungsabschnitt kommt der Idealismus auf und hat die Vorherrschaft (Negation). Schließlich wird der Idealismus vom wissenschaftlichen, dialektischen Materialismus abgelöst (Negation der Negation). Das andere Beispiel entstammt dem Marxschen „Kapital“. „Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation. Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel.“ [5/34] –

Karl Marx stellt hier ein theoretisches und ideologisches Hauptergebnis seiner Analyse des Kapitalismus, die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution und ihres Resultats, der kommunistischen Vergesellschaftung der Produktion, in einen übergreifenden, weltgeschichtlichen Entwicklungszusammenhang.

Unter diesem Gesichtswinkel bedeutet die kommunistische Umwälzung eine Negation der Negation. Aufhebung der kapitalistischen Aneignungsweise, die selbst nur zustande kam durch Beseitigung des individuellen Privateigentums an den Produktionsmitteln. Diese Negation der Negation wurde durch Marx im Gefolge einer Analyse der ursprünglichen Akkumulation und der Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Akkumulation begründet. Sie ist aus der wirklichen Geschichte abgeleitet. Sie ist ihr nicht im Nachhinein aufgezwängt.

Das dialektische Schema ist aber kein Ersatz für die geschichtliche Analyse. In Übereinstimmung mit Friedrich Engels betont Lenin, „dass es Aufgabe der Materialisten ist, den wirklichen historischen Prozess richtig und exakt darzustellen“[6/35]. Dabei offenbart sich allerdings das objektiv dialektische Wesen der ökonomischen Gesellschaftsformation. Ihr braucht keine Dialektik aufgepfropft zu werden. Die materialistische Untersuchung fördert sie zu Tage. Damit erweist sich freilich auch die dialektische Methode als die richtige Methode der Untersuchung. Kurz, es geht um die materialistisch-dialektische Methode, ihren Gegensatz als wissenschaftliche, der Objektivität angemessene Denkweise, gegen die metaphysische, unwissenschaftliche Denkweise, die die objektive Realität, ihre dialektischen Verhältnisse, Widersprüche, Entwicklungen verfehlt. Worin drückt sich jene Denkweise, bezogen auf die Gesellschaft aus? Sie besteht darin, „dass die Gesellschaft als ein lebendiger, in ständiger Entwicklung begriffener Organismus betrachtet wird (und nicht als etwas mechanisch verkettetes, das infolgedessen eine beliebige willkürliche Kombination der einzelnen gesellschaftlichen Elemente zuließe), dessen Untersuchung die objektive Analyse der Produktionsverhältnisse erfordert, die die gegebene Gesellschaftsformation bilden, die Erforschung der Gesetze, nach denen sie funktioniert und sich entwickelt.“ [7/36]

Die Konsequenzen einer solchen dialektischen Betrachtungsweise der kapitalistischen Gesellschaftsformation für die sozialistisch revolutionäre Ideologie – und ihren Gegensatz sowohl zum Reformismus wie auch zum anarchistischen Revoluzzertum – liegen auf der Hand. Wenn die Gesellschaft in ständiger Entwicklung begriffen ist – und dies ist keine spekulative Annahme, sondern heute geradezu schon eine Trivialität, ein selbstverständlich gewordenes Faktum –, dann ist der Kapitalismus selbst nur als eine geschichtlich gewordene und geschichtlich vergängliche Stufe dieser Entwicklung anzusehen. –

Wenn die Gesellschaft einen Entwicklungsprozess darstellt, dann schließt dies nicht allein quantitative Veränderungen – z. B. die quantitative Anhäufung von Produktionsmitteln, die Vermehrung der Produkte menschlicher Arbeit, die Erhöhung ihrer Produktivität ein –, sondern auch qualitative Veränderungen, grundlegende Veränderung in der Art und Weise der Produktion, des Austausches, der Aneignung und Verteilung.

Unter diesem Aspekt sind soziale Revolutionen nichts anderes als die qualitativen Umschlagspunkte der sozialen Evolution, die Springpunkte des Übergangs der Gesellschaft in eine neue historische Qualität.

Historische Qualität bezeichnet wesentlich die soziale Daseinsweise des Menschen, die sich aus dem Typ der Produktionsverhältnisse ergibt. Historische Qualität bezeichnet die Art des Zusammenlebens und Produzierens der Menschen.

Offensichtlich unterscheidet sie sich in den aufeinanderfolgenden Produktionsweisen der Sklaverei, des Feudalismus, des Kapitalismus, des Kommunismus grundlegend. Wenn die Gesellschaft auf jeder ihrer Entwicklungsstufen ein organisch zusammengeschlossenes Ganzes ist und nichts mechanisch Verkettetes, dessen Elemente sich willkürlich so oder auch anders kombinieren ließen, dann schließt dies die Möglichkeit aus, ihre Verhältnisse nach einem reformistischen oder anarchistischen Wunschtraum einzurichten. Ebenso wie der geschichtliche Qualitätssprung, die Revolution, objektiven Gesetzescharakter trägt, sich nicht „machen“ oder durch Reformen ausschalten lässt, ebenso ergibt sich der Typ des Zusammenlebens der Menschen in der durch die Revolution eröffneten – oder abgeschlossenen – neuen Epoche durch seine objektiven Voraussetzungen, die Produktivkräfte und herrschenden Eigentumsverhältnisse.«

Anmerkungen

1/30 W. I. Lenin, Was sind die „Volksfreunde“…, S. 176.

2/31 Ebenda, S. 177.

3/32 Ebenda, S. 156.

4/33 Ebenda.

5/34 Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, in: K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1962, S. 791. Vgl. W. I. Lenin, Was sind die „Volksfreunde“…, S. 163f.

6/35 W. I. Lenin, Was sind die „Volksfreunde“…, S. 156.

7/36 Ebenda, S. 158.

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie von Otto Finger. Vgl.: 7.5. Lenins Charakteristik des philosophischen Wesens der wissenschaftlichen Gesellschaftstheorie, in: 7. Kapitel: Zur Herausbildung der Leninschen Etappe der materialistisch-dialektischen Revolutionstheorie.

06.05.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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