Grundgedanke und revolutionstheoretischer Erkenntnisfortschritt der „Deutschen Ideologie“

von Otto Finger

Das sozialtheoretische und ideologiekritische Programm der „Feuerbachthesen“ – nähere Begründung der objektiven Bedingungen und subjektiven Faktoren revolutionärer Praxis, eingeschlossen die revolutionäre Triebkraft kommunistischer Ideologie – wird in der „Deutschen Ideologie“ ausgeführt. Die bisher gewonnenen Ansätze werden ausgebaut zu einer sehr viel konkreteren dialektischen Theorie der Revolution der Arbeiterklasse, die einen politischen Angelpunkt der erstmalig systematischen Entwicklung des historischen Materialismus bildet. Es kommt zur näheren Analyse sowohl der objektiven Widerspruchsverhältnisse des Kapitalismus, die die Notwendigkeit seines revolutionären Sturzes einschließen, als auch zur näheren Begründung des Proletariats als der Klasse, die diese Revolution durchführt. Desgleichen werden Weg und Ziel der sozialistischen Revolution konkreter als vordem angegeben. Ferner spielen die ideologischen Prozesse der Vorbereitung und Durchführung, konkrete Fragen also der Sprengung der bürgerlich-ideologischen Fesseln, an die die spontane Arbeiterbewegung zunächst gebunden ist, die Zerschlagung speziell von antirevolutionärer – anarchistisch-kleinbürgerlicher und abstrakt-anthropologischer – Ideologie, die Herausbildung des konkreten revolutionären Klassenstandpunktes der Arbeiter nunmehr eine sehr viel größere Rolle als vordem.

Wollte man den ganzen riesigen Umkreis der in der „Deutschen Ideologie“ untersuchten Fragen auf ein philosophisch-theoretisches Grundproblem beziehen, so ließe es sich so angeben: Welche objektive Widerspruchsdialektik des gesellschaftlichen Seins treibt mittels der Umwälzung des gesellschaftlichen Bewusstseins zur sozialistisch-revolutionären Beseitigung aller alten Verhältnisse der Ausbeutung und Unterdrückung des arbeiten Menschen? –

Wobei uns Karl Marx und Friedrich Engels in der „Deutschen Ideologienicht als die Beobachter und Registratoren eines jenseits ihrer Parteinahme ablaufenden Vorgangs gegenübertreten, sondern als Theoretiker der Revolution, deren höchstes Ziel die Praxis der Revolution ist. Sie beginnen nunmehr deutlicher als vordem das wissenschaftliche Bewusstsein von der Gesellschaft, ihren Gesetzmäßigkeiten und Entwicklungstendenzen als revolutionäres Klassenbewusstsein des Proletariats, als kommunistisches Bewusstsein seiner Perspektive zu entwickeln. Während in den „Manuskripten“ der Hauptakzent der Analyse auf der Darstellung des Proletariats als der unter den Verhältnissen der entfremdeten Arbeit unsagbar leidenden, verelendeten Klasse lag, beginnen Marx und Engels jetzt – in Fortführung von Ergebnissen auch der Auseinandersetzung mit der junghegelianischen Philosophie in der „Heiligen Familie“ – deutlicher das Proletariat als zum revolutionären Handeln fähige Klasse zu begründen. Freilich findet dieser Übergang seinen vollständig durchgebildeten theoretischen Ausdruck erst im „Maifest der Kommunistischen Partei“ und der es theoretisch unmittelbar vorbereitenden Arbeit von Friedrich Engels, in den „Grundsätzen des Kommunismus“.

Marx und Engels haben weder als erste die Klassen noch den Klassenkampf entdeckt. Wohl aber die objektiv-gesellschaftlichen Gründe des Entstehens von Klassen, die Ursachen für die Kämpfe der Klassen. Sie haben die Klassenkämpfe als entscheidende Triebkraft aller bisherigen geschichtlichen Veränderungen, eingeschlossen die sozialen Revolutionen, entdeckt. Und sie haben die Klassen und die Klassenkämpfe nicht als ewige Daseinsweise der Gesellschaft, sondern als ebenso konkret-historisch entstandene wie konkret-historisch überwindbare Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens der Menschheit begründet. Letzteres findet seinen Ausdruck in der keimhaft schon in der „Deutschen Ideologie“ angelegten, im „Manifest“ der Sache nach vorhandenen und in den Schriften zur Revolution von 1848 klar formulierten These, dass alle bisherigen Klassenkämpfe in der Diktatur des Proletariats münden, der letzten Form der Klassenherrschaft, die die materiellen und ideologischen Grundlagen für die klassenlose kommunistische Gesellschaft organisiert.

Den gleichermaßen philosophisch-theoretischen und politisch revolutionären Ausgangspunkt der in der „Deutschen Ideologie“ durchgeführten Kritiken (an Feuerbachs Anthropologie, an der geschichts-philosophischen Spekulation der Gebrüder Bauer, an dem kleinbürgerlich-anarchistischen Scheinkritizismus Max Stirners, am sogenannten „wahren Sozialismus“) und Analysen der Gesetze geschichtlicher Entwicklung geben Marx und Engels programmatisch so an: dass es sich „… für den praktischen Materialisten, d. h. Kommunisten darum handelt, die bestehende Welt zu revolutionieren, die vorgefundnen Dinge praktisch anzugreifen und zu verändern.“ [1/153]

Praktischer Materialismuszum Unterschied vom bloß theoretischen Materialismus Feuerbachs – das ist der aus der ebenso wissenschaftlich wie proletarisch-kritisch begriffenen gesellschaftlichen Wirklichkeit hervorwachsende Standpunkt: Die Widersprüche dieser Gesellschaft als materielle begreifend, darum auf die Aktion ihrer materiellen Lösung abzielend. Das ist praktischer – dialektischer und kommunistischer Materialismus. Die Aktion und das Resultat, das dieser Materialismus befördert, sind kommunistische, weil sie als vom Proletariat durchgeführte nur in der Vergesellschaftung der Produktionsmittel münden können.

Es ist hervorzuheben, dass fortan Karl Marx und Friedrich Engels ihren Standpunkt unmissverständlich als Materialismus bezeichnen. Demgegenüber – speziell in Abgrenzung vom metaphysischen Aufklärungsmaterialismus – hatte Marx noch in den „Manuskripten“ (obzwar sie bereits ganz entscheidende Positionen materialistischer Philosophie sozialtheoretisch und kapitalismuskritisch ausdehnten) seinen Standpunkt als jenseits von „Spiritualismus“ oder Idealismus und Materialismus stehend gekennzeichnet. Seinen sich formierenden historischen und dialektischen Materialismus fasst Marx hier noch als die „vereinigende Wahrheit“ beider. Sicher gilt ganz allgemein, dass Marx an die besten Ergebnisse beider, der Traditionen des materialistischen Denkens von Demokrit bis Feuerbach und der Traditionen des dialektischen Idealismus von Kant bis Hegel angeknüpft hat. Er hat gewiss auch deren Einseitigkeiten überwunden. Nichtsdestoweniger ist die Marxsche Formel für diesen Sachverhalt unzulänglich, weil sie tatsächlich gänzlich neue theoretische und politische Qualität seines Denkens nicht voll zum Ausdruck bringt. Er bezeichnet seine Auffassung noch als „durchgeführten Naturalismus oder Humanismus“ [2/154] –

Nunmehr aber, die dominierende und fundamentale theoretische Rolle des Materialismus für alle weiteren Schritte hervorkehrend, bezeichnen Marx und Engels ihren Standpunkt unmissverständlich als Materialismus. Der „durchgeführte Naturalismus“ erweist sich jetzt umfassend als geschichtlich angewandter Materialismus. Der „durchgeführte Humanismus“ als klassenmäßig eindeutig formulierter, als proletarischer, sozialistischer Humanismus, als kämpferischer Humanismus der kommunistischen Umwälzung.

Die in der Analyse der „Manuskripte“, in der Untersuchung der entfremdeten Arbeit eingeschlossenen Keime und erste politökonomischen Prinzipien der Klassenanalyse der Gesellschaft werden in der „Deutschen Ideologie“ fortentwickelt und angewandt. Marx und Engels beantworten die Frage näher, worin die Klassengegensätze materiell wurzeln, durch welche praktisch-gesellschaftlichen Prozesse es zur objektiven Dialektik des Klassenkampfes als der progressiven Bewegungsform der Geschichte kommt.

Klassen, dies ist der elementarste Ansatz zur Aufhellung ihres Wesens und ihrer Entstehung, sind materielle gesellschaftliche Erscheinungen. Damit aber ist alles, was über Klassen theoretisch auszumachen ist, aus der materiellen Produktion abzuleiten. Karl Marx geht in der Untersuchung der Klassen materialistisch-dialektisch vor: von ihrem objektiven Sein zu ihrem Bewusstsein.

Dann freilich wird die Untersuchung weitergeführt; Marx und Engels begnügen sich nicht mit dem Aufweis dieses „materialistischen Zusammenhangs“ von Sein und Bewusstsein, dem Nachweis, dass Bewusstsein zunächst nichts anderes sein kann als bewusstes Sein. Es wird gezeigt, dass dieser Zusammenhang in den folgenden Beziehungen ein dialektisch-widersprüchlicher ist:

In der vorsozialistischen Geschichte reflektieren sich Klassenantagonismen als Ideologie im Sinne falschen Bewusstseins

Bewusstsein wirkt auf die es erzeugende Basis zurück.

Revolutionäres Bewusstsein kann zur Triebkraft der praktischen Umwälzung werden.

Das wissenschaftliche Klassenbewusstsein des Proletariats widerspiegelt nicht bloß die objektive Dialektik des Kapitalismus, sondern nimmt theoretisch die kommunistische Zukunft vorweg, gibt so die strategische Orientierung für den proletarischen Klassenkampf.

Vorausgesetzt für diese nähere Analyse des Klassenbewusstseins ist jedoch, dass es aus dem Sein der Klasse, ihrer objektiven Stellung abgeleitet wird.

Und das ist noch immer aktuell wegen der schon im Vorstehenden öfter berührten Versuche, die objektiven Kriterien durch subjektive und intellektuelle zu ersetzen, wie bei Anatol Rapoport. Auch das zu begründende wissenschaftliche Klassenbewusstsein des Proletariats widerspiegelt zunächst nichts anderes als das objektive Sein dieser Klasse im Kapitalismus

Anmerkungen

1/153 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: Werke, Bd. 3, Berlin 1958, S. 42.

2/154 Vgl. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, S. 577. »An diese Sätze haben sich seit ihrer Publikation mannigfache bürgerliche und revisionistische Versuche angeknüpft, um den „authentischen“ Marx der „Manuskripte“, als Nichtmaterialisten oder gar Antimaterialisten darzutun. Vgl. hierzu O. Finger, Sozialistische Ideologie, Kapitel 4. (Dort wird näher auf eine unmittelbar nach Erscheinen der „Manuskripte“ begonnene Linie der Materialismusfälschung durch H. Marcuse und H. de Man eingegangen.)«

Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Autor: Otto Finger. Vgl.: 5.19. Grundgedanke und revolutionstheoretischer Erkenntnisfortschritt der „Deutschen Ideologie“, in: 5. Kapitel: Dialektik der Revolution.

20.07.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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