Aus dem Schattenreich der differenzierten Lohnarbeit und Ausbeutung in Deutschland – 2012 Aspekte im System der bundesdeutschen Erwerbsarbeit

»Der Rekord bei der Erwerbstätigkeit wird überinterpretiert, da er insbesondere auf die gestiegene Zahl von Kleinstarbeitsverhältnissen und prekärer Beschäftigung zurück zu führen ist.« (DGB)

Es gewinnen zunehmend Erwerbsformen in Deutschland an Gewicht, die von der unbefristeten Vollzeit-Lohnarbeit abweichen. Sie sind mit geringeren sozialen Sicherungen und niedrigeren Erwerbseinkommen sowie einem höheren Verwertungs- und Armutsrisiko verbunden.

Nach den Daten des Mikrozensus waren zuletzt im Jahr 2010 rund 7,8 Millionen Arbeitskräfte atypisch-prekär beschäftigt (Befristung, Teilzeitbeschäftigung, Zeitarbeit und Leiharbeit, geringfügige Beschäftigung usw.). Dies waren 3,5 Millionen mehr als 1991. Gut 25 Prozent aller abhängig Beschäftigten in Deutschland befand sich in einem Arbeitsverhältnis, das mindestens eins der atypischen Merkmale aufwies. 1991 lag der Anteil der atypisch Beschäftigten bei 13,7 Prozent aller abhängig Beschäftigten und im Jahre 2000 bei rund 18 Prozent. Die sogenannte “Normalerwerbstätigkeit“ – mit einer unbefristeten Stelle von mehr als 20 Arbeits- und Wochenstunden – hat sich absolut wie anteilsmäßig deutlich verringert. (Vgl. Sonderauswertung des Mikrozensus)

Ebenso wie die atypische differenzierte Lohnarbeit (bzw. “Beschäftigung“) hat die “Soloselbständigkeit“ quantitativ an Bedeutung gewonnen. Diese Form der prekären Selbständigkeit (‘mein’ ‘eigener’ ‘Unternehmer’ – der Selbstausbeutung!) hat sich in den letzten 20 Jahren um rund 1 Million erhöht. –

Über die Hälfte aller Selbständigen bzw. rund 6,2 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland sind sogenannte “Soloselbständige“ ohne Mitarbeiter (bzw. ohne “Beschäftigte“ der differenzierten Lohnarbeit). Im Jahr 1991 waren es noch rund 3,7 Prozent. –

»Frauen sind sehr viel häufiger atypisch beschäftigt als Männer, sie sind häufiger befristet, arbeiten unter 20 Stunden [Wo.] oder üben nur sog. geringfügige Beschäftigungsverhältnisse aus. Zuletzt waren 34,1 Prozent der Frauen in ‘Jobs’ [- in Arbeit] tätig, die mindestens eines der für diese von der Normalarbeit [bzw. ‘Normal’- Ausbeutung] abweichenden Elemente aufwies. Besonders groß ist der geschlechtsspezifische Unterschied bei der Teilzeit und den sog ‘Minijobs’.« –

»Bei den Männern sind 12,3 Prozent atypisch beschäftigt, wobei die meisten von ihnen einen befristeten Arbeitsvertrag haben. Deutlich stärker vertreten sind sie ebenso in der Leiharbeit und häufiger als ‘Soloselbständige’ tätig. Absolut ist die Zahl der atypisch beschäftigten Frauen mehr als doppelt so hoch wie die der Männer. Doch die Dynamik ist bei den Männern weit größer – bei einem deutlich r niedrigeren Ausgangsniveau. Dies gilt insbesondere für das letzte Jahrzehnt, in dem die atypische Beschäftigung der Männer doppelt so stark gestiegen ist wie bei den Frauen. In den 1990er Jahren waren die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei den Zuwachsraten deutlich geringer.« (Vgl. atypische Beschäftigung und Soloselbständige nach Geschlecht 1991, 2000 und 2010.)

Anstieg von Niedriglohn und Armutsgefährdung – und Altersarmut

Als Niedriglohnschwelle wird meist der OECD-Standard von zwei Drittel des Medianlohns pro Std. verwendet. Auf der Basis des sozio-ökonomischen Panels (vgl.) lag 2009 die Niedriglohnschwelle in Westdeutschland bei 9,76 Euro pro Stunde [Merke: der DGB-Vorstand fordert einen gesetzlichen Mini-Mindestlohn – für lohnabhängige Ausbeutung bzw. Erwerbsarbeit – von mindestens 8,50 Euro] und in Ostdeutschland bei nur 7,03 Euro. –

Danach arbeiteten im Jahr 2009 (offiziell) rund 6,7 Millionen Werktätige bundesweit für Niedriglöhne. Im Vergleich zu 1998 stieg die Zahl der Niedriglohnarbeitsverhältnisse um fast 2,4 Millionen an. –

Besonders stark betroffen sind atypisch Beschäftigte. Sie verdienen im “Durchschnitt“ deutlich weniger die Stunde als sogenannte “Normalbeschäftigte“. Im Jahr 2006 erhielt fast die Hälfte (49,2 Prozent) aller atypisch Beschäftigten einen Bruttostundenlohn unterhalb der geringen Niedriglohngrenze gegenüber einem Anteil von 11,1 Prozent der Beschäftigten im sogenannten ‘Normalarbeiteverhältnis. (Vgl. Statistisches Bundesamt.)

»Berücksichtigt man nicht nur das individuelle Erwerbseinkommen, sondern das gesamte Haushaltseinkommen und die Größe des jeweiligen Haushalts, zeigt sich zugleich ein überdurchschnittliches Armutsrisiko atypisch Beschäftigter. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes waren 2008 bereits mehr als 1 Million bzw. 14,3 Prozent aller atypisch Beschäftigten armutsgefährdet. 1998 lag der Anteil noch bei knapp 10 Prozent. Der Anteil der armutsgefährdeten Personen hat sich generell bei allen Formen atypischer Beschäftigten erhöht und ihre Zahl absolut mehr als verdoppelt.«

»Vergleicht man Männer und Frauen, zeigt sich, dass atypisch beschäftigte Männer häufiger armutsgefährdet sind als Frauen. Dies ist vorrangig auf die unterschiedliche Haushaltssituation zurückzuführen. So lebt insbesondere in den alten Ländern [- West] die Mehrheit der atypisch beschäftigten Frauen in einem Haushalt mit mindestens einem [sogenannten] Normalerwerbstätigen, bei den atypisch beschäftigten Männern ist der Anteil mit „Normalbeschäftigten“ im Haushalt nur knapp halb so groß. Ein Niedriglohn kann hier viel seltener durch Erwerbseinkommen weiterer Haushaltsmitglieder über die Armutsgefährdungsquote gehoben werden.« –

»Als armutsgefährdet gelten nach der vom Statistischen Bundesamt verwendeten Definition Personen, die unter Gewichtung der Haushaltsgröße weniger als 60 Prozent des Mittelwertes des Äquivalenzeinkommens der Bevölkerung erzielen.« (Vgl. – und siehe auch: Armutsrisiko nach Erwerbsform im Zehnjahresvergleich.)

Die “Soloselbständigen“ in ‘unternehmerischer’ Selbstausbeutung: Das Risiko der Selbständigen ohne Beschäftigte ist aber dreimal höher und für atypisch Beschäftigte sogar fünfmal so hoch wie für ‘Normalbeschäftigte’ [- in ‘Normal’-Ausbeutung].

»Insgesamt hat sich die Zahl der armutsgefährdeten Erwerbstätigen nach Daten des Statistischen Bundesamtes von 1998 bis 2008 um gut 700.000 bzw. knapp 60 Prozent erhöht. In diesem Zehnjahreszeitraum hat sich die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt um zwei Millionen erhöht. Mehr als ein Drittel (35,5 %) dieses Anstiegs geht auf armutsgefährdete Erwerbsformen zurück.«

»Der Nachkriegsrekord [- nach der zeitweiligen militärischen Niederlage des deutschen Kapitalfaschismus, Nationalismus und Imperialismus, nach 1945] bei der Erwerbstätigkeit geht mit sinkendem Anteil der Normalbeschäftigung und überdurchschnittlichem Wachstum atypischer Beschäftigung einher. Zugleich steigt Armutsgefährdung in allen Erwerbsformen, was sich in steigender Armut trotz Erwerbstätigkeit [und zunehmender Altersarmut] niederschlägt.« (Vgl.)

[Ein modifizierter Auszug.]

Quelle vgl.: DGB – Bundesvorstand, 23.02.2012 | Erwerbstätigkeit: Licht und Schatten im Beschäftigungssystem – Die Entwicklung in den letzten 20 Jahren. DGB Abteilung Arbeitsmarktpolitik. Arbeitsmarkt aktuell, Nr. 02 / Februar 2012.

http://www.dgb.de/themen/++co++09063d28-5d69-11e1-70ca-00188b4dc422

Nachtrag

Bereits das Loblied von einem neuen “Jobwunder“ wurde gesungen und die gesellschaftspolitische Administration feiert einen “Nachkriegsrekord“ beim Umfang der Erwerbsarbeit. Doch dieser “Beschäftigungsaufbau“ ging mit erheblichen Verschiebungen zwischen den unterschiedlichen Arbeits- und Ausbeutungsformen einher. Massiv gestiegen sind die vom Staat mitfinanzierten “Minijobs“; aber auch andere Formen atypischer Ausbeutungsverhältnisse breiten sich aus, wie befristete Lohnarbeit, Zeitarbeit und Leiharbeit, und sozialversicherte Teilzeitarbeit. (Vgl.) –

»Diese vom Normalarbeitsverhältnis abweichenden Beschäftigungsformen liegen um mehr als 3 Millionen über dem Niveau von 1991. Von dem Anstieg der sozialversicherten Beschäftigung der letzten Jahre seit 2004 gehen immerhin bis 2011 rund 37 Prozent allein auf das Konto der Leiharbeit. Dieser Beschäftigungswandel geht mit Verschiebungen zwischen den Wirtschaftssektoren einher, ist oftmals allerdings auch Ausdruck einer anderen betrieblichen Personalstrategie.«

(Vgl.: DGB-Fazit)

24.02.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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