„Kritische“ Theorie – Scheinkritizismus

Adorno über Materialismus

Von Otto Finger (1973)

[Im Rückblick: Aspekte der Parteilichkeit, Idealismus und Entfremdung – auch bei Otto Finger]

Theodor W. Adornos letzte größere Schrift „Negative Dialektik“ (1966), als „Antisystem“ par excellence gemeint, abzielend auf die Befreiung der Dialektik von allem „affirmativen Wesen“, um das „Einheitsprinzip“ in der Philosophie und die „Allherrschaft des übergeordneten Begriffs“ und den „Trug konstitutiver Subjektivität“ zu durchbrechen [1/17], sind ein Programm und eine Methode, „kritische“ Theorie zu entwickeln, die nicht weniger will als über alle vormaligen philosophischen und gegenwärtigen praktisch-politischen Fronten hinaus. Adorno gibt sich als ein neuer „Alleszermalmer“. Nicht die klassische bürgerliche und auch nicht die spätkapitalistische Philosophie finden Gnade vor solch „kritischer Kritik“, Kant, Fichte und Hegel nicht, Sartrescher und Heideggerscher Existenzialismus nicht, die Husserlsche Phänomenologie und die positivistische Wissenssoziologie nicht. –

Und eben auch der marxistisch-leninistische Materialismus nicht, sofern er zur politischen Macht geworden sei, allenfalls als „Inbegriff der Kritik am Idealismus und an der Realität, für welche der Idealismus optiert, indem er sie verzerrt.“ [2/18]

Da nun aber in Adornos antikommunistischer Sicht herrschende sozialistische Ideologie Realität verzerrt, fällt selbstredend der moderne Leninsche Materialismus unter die zu kritisierenden Gegenstände. Was Adorno an Verunglimpfung des Materialismus vorbringt, ist deutlich politisch motiviert, resultiert aus antisozialistischer und antisowjetischer Haltung, wodurch im Grunde auch alles gegen den Spätkapitalismus Gekehrte zwangsläufig in dessen Apologie zurückschlagen muss.

Es gilt für diesen Effekt in gewissem Sinne, was einmal Marx in der „Heiligen Familie“ über die Hegelsche „Phänomenologie“ sagte: In ihr würden „die materiellen, sinnlichen, gegenständlichen Grundlagen der verschiedenen entfremdeten Gestalten des menschlichen Selbstbewusstseins stehengelassen, und das ganze destruktive Werk hatte die konservativste Philosophie zum Resultat, weil es die gegenständliche Welt, die sinnlich wirkliche Welt überwunden zu haben meint, sobald es sie in ein ,Gedankending’… verwandelt hat und den ätherisch gewordenen Gegner nun auch im ,Äther des reinen Gedankens’ auflösen kann. Die ,Phänomenologie’ endet daher konsequent damit, an die Stelle aller menschlichen Wirklichkeit das ,absolute Wissen’ zu setzen … absolutes Wissen, eben weil das Selbstbewusstsein nur sich selbst weiß und von keiner gegenständlichen Welt mehr geniert wird.“ [3/19] –

Adornos „absolute Kritik“ vermeint in ähnlicher Weise über die Realität hinauszusein und lässt den Spätkapitalismus „stehen“; ihr Konservatismus misst sich auch an der destruktiven Tendenz gegen jene Praxis und Theorie, die nicht als bloße Kritik, sondern als sozialistische Realität seit mehr als einem halben Jahrhundert hinausgeschritten ist [- 1975 – 1990/91] über alle von Adorno ebenso scharfsinnig wie esoterisch – und auch darum ohnmächtig – kritisierten Ideologien und Praktiken der imperialistischen Gesellschaft. Adorno beklagt, dass Materialismus „politisches Herrschaftsmittel“ geworden sei [4/20], genauer: materialistische Dialektik wäre als solches Herrschaftsmittel zur „rohen Weltanschauung“ geworden. Das aber sei ihr Niedergang. An anderer Stelle wird Adorno noch konkreter: Er spricht von der „zentralistischen Staatspartei“, die Hohn sei auf alles, was einmal über des Verhältnis zur Staatsmacht gedacht worden wäre. [5/21] –

Dies ist der Punkt, um den es eigentlich geht: Adorno und alle übrigen „Marxianer“ [6/22] legen das deutlichste Zeugnis ihres pseudomarxistischen und scheinrevolutionären Hantierens mit Elementen Marxscher Philosophie da ab, wo es um den entscheidenden politischen Garanten sowohl des Kampfes gegen den Imperialismus, wie der Errichtung der sozialistischen Gesellschaft geht: die marxistisch-leninistische Partei der Arbeiterklasse.

Und die Argumentationen gegen den Marxschen Materialismus (was einhergeht mit der Bejahung dieser oder jener, aus ihrem wirklich revolutionären Zusammenhang isolierten Elemente des Marxismus [7/23]) verlieren in dem Maße ihr edles akademisches Gesicht, wie es um diese politische Konsequenz geht: die Machteroberung der Arbeiterklasse und die führende Rolle der Partei im sozialistischen Staat. –

Da, wo Adorno ausdrücklich auf das Verhältnis von Materialismus und sozialistischer Praxis zu sprechen kommt, bedient er sich der plattesten Beschuldigungen, verfällt er in übelstes antikommunistisches Wehgeschrei. Der „zur politischen Macht gelangte Materialismus“ fessele den „objektiven Geist“. Die „Machthaber“ würden „Unmündigkeit“ planvoll reproduzieren. „Terroristische Staatsmaschinerien“ verschanzten sich unter „fadenscheinigen Vorwand“ als „Dauerinstitutionen“, Diktatur würde ausgeübt, die „Untertanen“ an ihre Interessen gekettet. –

Materialismus sei so schließlich Rückfall in die Barbarei: ihm entgegenzuarbeiten „nicht die gleichgültigste unter den Aufgaben einer kritischen Theorie“. [8/24] Das mag ausreichen, um den tatsächlichen politischen Standort „kritischer Theorie“ und ihr politisch determiniertes Verhältnis zum sozialistisch konkreten Materialismus kenntlich zu machen. Es ist ein Programm antisozialistischer ideologischer Diversion. [Otto Finger, 1973]«

Aspekte der Parteilichkeit, Idealismus und Entfremdung – (auch) bei Otto Finger

»Zunächst: Selbstredend ist nicht der Materialismus zur politischen Macht gekommen, auch lässt sich seine weltanschaulich-ideologische Effektivität nicht mit dem ebenso verschwommenen wie kritisch gemeinten Begriff des „Herrschaftsmittels“ umfassen. Zur „Macht gelangt“ ist die Arbeiterklasse. Sie hat ihre politische Herrschaft erobert. [Otto Finger] –

Und zwar im revolutionären Vollzug der politisch entscheidenden Prognose des Marxschen Materialismus, der Marxschen Voraussage über die unabdingbare Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats.

Bei Adorno wird hieraus das „verwaltete Proletariat“. Hinter dieser Formel verbirgt sich wiederum nichts anderes als der Angriff gegen die Führungsorgane der sozialistischen Gesellschaft, von deren Leitungstätigkeit ihr progressiver ökonomischer und kultureller Entwicklungsprozess nicht trennbar ist. –

Gefesselt wird nicht der „objektive Geist“, auch nicht das Bewusstsein; wohl aber wird der konterrevolutionären Restauration bürgerlicher Ideologie Paroli geboten [O. F.: 1973 -], welche nicht „objektiven“ Geist, sondern längst reaktionär gewordenes, höchst partikuläres, subjektivistisches Klassenbewusstsein der imperialistischen Bourgeoisie formiert [!]. –

Nicht „Unmündigkeit“ wird reproduziert [O. F., 1973], sondern planvoll werden die materiell-ökonomischen und ideologischen Triebkräfte für die Entfaltung der Mündigkeit [O. F., 1973], des wissenschaftlich bewussten Lebensprozesses der ungeheuren Mehrheit aller Menschen, der Werktätigen freigesetzt. Diese Freisetzung vollzieht sich nicht im unfassbaren „Äther“ eines wie auch immer kritisch aufgebrachten „objektiven Geistes“, sondern in solch realen gesellschaftlichen Wurzeln und Wirkungen sehr genau bestimmbaren Prozessen [- O. F., 1973 -], wie der Machtausübung der Arbeiterklasse, der Entfaltung der sozialistischen Demokratie, der Bildungs- und Kulturrevolution, der organischen Verschmelzung der wissenschaftlich-technischen Revolution mit den Vorzügen des Sozialismus. –

Hierin findet nicht „Selbsterniedrigung“ des Materialismus, sondern seine Erhebung zu einem wesentlichen philosophischen und humanistischen Gestaltungsprinzip unserer Epoche statt. [!] –

Als „Terrorismus“, als Schreckensherrschaft, kann solches gesellschaftliches Wirken der sozialistischen Staatsmacht nur dem erscheinen, dessen eigener intellektueller Schrecken über solch respektlose Inbesitznahme der Macht, des Wissens und der Kultur durch die Arbeiterklasse und alle Werktätigen selbst einhergeht mit der begründeten Furcht der imperialistischen Bourgeoisie, dieses Regiment nicht mehr aus den Angeln heben zu können. [!] «

Der Bourgeoisie und deren Ideologen Paroli bieten

»Sofern freilich die solchermaßen „terrorisierte“, auf einem großen Teil unseres Erdballs schon entmachtete Bourgeoisie [- 1973 -] ihre schwächer gewordenen geschichtlichen Bastionen mit Zunahme der Aggressivität und Verschärfung der ideologischen Diversion zu kompensieren sucht, bedarf die Staatsmacht des Sozialismus überhaupt keines „Vorwandes“ für ihre Dauerhaftigkeit und Festigkeit. Die andauernden verdeckten und offenen Aggressionen der imperialistischen Bourgeoisie gegen den Sozialismus – sie sind seit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution nicht abgerissen und haben buchstäblich alles aktiviert, was Ausbeuterherrschaften je an mörderischen Terror, an blutiger Barbarei aufgeboten haben, um den Widerstand der arbeitenden Klassen zu unterdrücken – die andauernden Aggressionen also des Monopolkapitals gegen den Sozialismus liefern mehr als „Vorwände“ für die allseitige Stärkung des sozialistischen Staates, auch für die Erhöhung seiner Verteidigungskraft.

Neben der Unmöglickeit, Sozialismus aus der Spontanität oder gar nur der sozialistischen Idee hervorzuwachsen zu lassen, neben der Notwendigkeit, seine Lebensprozesse zu planen, das Schöpfertum der Volksmassen zu organisieren, neben dieser konstruktiven Grundaufgabe des sozialistischen Staates ist die entschlossene, wachsame Verteidigung der opferreich erkämpften sozialistischen Lebenswirklichkeit gegen jeglichen Angriff von seiten des imperialistischen Weltsystems ein unabdingbares Erfordernis. [- 1973 -] –

Diesem Erfordernis trägt die „Dauerinstitutiondes sozialistischen Staates in der gebührenden Weise – ökonomisch [-sozial-ökologisch-emanzipatorisch-], kulturell, militärisch – Rechnung. –

Dass sich der philosophierende Untertan eines imperialistischen Herrschaftssystems den von Ausbeutung und Unterdrückung befreiten, seinen Lebensprozess selbstbewusst gestaltenden Bürger des sozialistischen Staates nur nach dem Modell seiner eigenen Untertanenrolle vorstellen kann, belegt nur, wie wenig die Anstrengung des „kritischen“ Begriffs ins sozialistische „Sachhaltige“ vorzudringen vermag, wie sehr sie den antikommunistischen Denkvorschriften spätbürgerlicher Ideologie verhaftet bleibt, mit Adorno zu reden, „Ausgeburt der repressiven Gesellschaft“ ist.

Adornos Anwürfe gegen Lenins Erkenntnistheorie bewegen sich auf dem gleichen Niveau der Verkoppelung von antikommunistischer Agitation mit scheindialektischer Reflexion. Die „offiziell materialistische“ Dialektik habe die Erkenntnistheorie durch „Dekrete“ übersprungen. Solches „Dekret“ sei der Abbildungsstandpunkt. Unterstellt wird dem Dialektiker Lenin, was er auch in Sachen des Erkenntnisprozesses in aller nur erdenklichen Umfänglichkeit und Deutlichkeit – im „Materialismus und Empiriokritizismus“ wie in den „Philosophischen Heften“ – widerlegt hat: der Standpunkt nämlich, dass Widerspiegelung Vorgang mechanischer , photographischer Kopie des objektiven Originals sei. Dies dem Leninschen Denken in absurder Verfälschung seines gründlich dialektischen Herangehens an den Erkenntnisvorgang unterschoben, lässt sich dann gegen Lenin mit gespreizter „kritischer“ Theorie zu Felde ziehen: Rückfall in „materialistische Mythologie Epikureischen Stils, die erfindet, die Materie sende Bildchen aus“ [9/25], Verhaltung des Subjekts zur „sturen Widerspiegelung“ des Objekts, mit dem Resultat „friedloser geistiger Stille integralen Verwaltens“, Illusion des „unverdrossen verdinglichten Bewusstseins“, es besitze Photographien der Objektivität usf. Angesichts solcher Tiraden, die sämtlich am Original Leninscher Erkenntnistheorie vorbeigehen, könnte man meinen, Adorno kenne Lenin nur vom bürgerlich-akademischen Hörensagen und er habe sich nicht der Mühe unterzogen, auch nur einen einzigen erkenntnistheoretischen Text Lenins zu lesen. Wie dem auch sei, die polemische Plattheit und geistreichelnde Arroganz Adornoscher Fehlurteile wächst mit der Annäherung an die philosophischen ausschlaggebenden Fragen unserer Epoche; diese aber sind im Leninismus beantwortet. Was Adorno über das Ergebnis der Leninschen Kritik an den idealistischen Erkenntnislehren des Positivismus, des Machismus, der Immanenzphilosophie sagt, gilt in der Tat für seine eigene Manier des Argumentierens: „das Kritisierte, in das nicht eingedrungen ward, bleibt unbehelligt, wie es ist…“ [10/26]

Was Adorno als Alternative gegen Spätkapitalismus und Sozialismus anzubieten hat, ist in solchem Maße unverbindlich, unkonkret, dass der zwingende Eindruck entsteht: Es ist ihm gar nicht Ernst mit den sozialen Konsequenzen seiner „kritischen Theorie“, oder nur so weit Ernst, wie in der bürgerlichen Welt alles beim alten bleibt, nicht bloß trotz, sondern auch wegen so gearteter „kritischer Theorie“.

Einige charakteristische Sätze Adornos, die seinen Scheinkritizismus, das ganze Pseudomarxistische und Antirevolutionäre seiner Position sichtbar machen [?]:

Ihnen konfrontiert (den „Veranstaltungen, welche die Gesellschaft trifft, um sich auszurotten“), verlangt der Zweck, der allein Gesellschaft zur Gesellschaft macht, dass sie so eingerichtet werde, wie die Produktionsverhältnisse hüben und drüben unerbittlich es verhindern, und wie es den Produktivkräften nach hier und heute möglich wäre. Eine solche Einrichtung hätte ihr Telos an der Negation des physischen Leidens noch des letzten ihrer Mitglieder, und der einwendigen Reflexionsformen jenes Leidens. Sie ist das Interesse aller, nachgerade einzig durch eine sich selbst und jedem Leidenden durchsichtige Solidarität zu verwirklichen.“[- 1966 –] [11/27]

[1973, Otto Finger:] Nicht die Gesellschaft macht Veranstaltungen, sich selbst auszurotten. Solche Sätze, aus dem Munde eines Philosophen vom Fach, eines Philosophen, der gar beansprucht, authentischen Marx zu bewahren, sind noch viel weniger einer naiven Verkennung der – von Lenins Imperialismusanalyse präzis aufgedeckten – wirklichen Wurzeln der Menschheitsbedrohung heute zuzurechnen, als welche sie beim oben zitierten Mediziner passieren mochte. Adorno befördert solches tödlich gefährliches Verkennen mit derartigen Abstraktionen von genau lokalisierbaren Tendenzen imperialistischer Barbarei zum Attribut der heutigen Gesellschaft. Und das reale, existierende Gegenmittel gegen diese Tendenz ist nicht im sozialen und politischen Niemandsland jenseits von Imperialismus und Sozialismus zu suchen, jenseits der Produktionsverhältnisse „hüben und drüben“, sondern im sozialistischen Hier und Heute [- 1973 –]. –

[Otto Finger:] Aber Adorno verzichtet auch auf den leisesten Ansatz, sich mit dieser sozialistischen Praxis, dem zur „politischen Macht gelangten“ Materialismus, der ganz und gar auch praktischer, weil sozialistischer und antiimperialistischer Humanismus ist, vertraut zu machen. [- ? -] Die stupide Weigerung, das zu tun und allzu offenkundige Bereitwilligkeit, an die Stelle der im sowjetischen sozialistischen und kommunistischen Aufbau und der entsprechenden Anwendung [?] in der sozialistischen Staatengemeinschaft [?] verwirklichten [?] Marxschen und Leninschen Forderungen nach humanistischer Entfaltung [!] der Produktivkräfte [!] des arbeitenden Menschen [!] den nantikommunistischen Popanz [?] vom „verwalteten Proletariat“ [!] zu setzen [?] – dies bricht all seinem theoretisch-kritischen Verhalten zur bürgerlichen Praxis die Spitze ab. [?] –

[1973, Otto Finger vs. Adorno:] Wie in der Philosophie, so in der Politik: sich als Partei der Mitte etablieren zu wollen, jenseits des unversöhnlichen Widerspruchs zwischen sozialistischer und bürgerlicher Ideologie [!], zwischen sozialistischer und bürgerlicher Ideologie, zwischen marxistisch-leninistischem Materialismus und objektivem wie subjektivem Idealismus [- 1973 auch bei Otto Finger -], zwischen sozialistischer und imperialistischer Politik führt nicht über die Reaktion hinaus [!], sondern auf sie zurück. [- 1988/89/90/91.] «

Anmerkungen

1/17 Vgl. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1966, S. 7.

2/18 Ebenda, S. 195.

3/19 Friedrich Engels und Karl Marx, Die heilige Familie, in: K. Marx und F. Engels, Werke, Bd. 2, Berlin 1958, S. 203 f.

4/20 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, S. 198.

5/21 Ebenda, S. 55.

6/22 Vgl. W. R. Beyer, Tendenzen bundesdeutscher Marxbeschäftigung, Köln 1968, S. 118 ff.

7/23 »So wie Marx’ Enthüllung des Verdinglichungsprozesses gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse im Kapitalismus und des durch ihn erzeugten falschen Bewusstseins. Freilich wird auch diese Marxsche Leistung sofort wieder in ihren prinzipiell über bürgerliche Philosophie hinausgehenden materialistischen Voraussetzungen in Frage gestellt. Das Kapitel über den Fetischcharakter der Ware in Marx’ „Kapital“ sei wahrhaft ein Stück Erbe klassischer deutscher Philosophie, in welchem sogar deren „systematisches Hauptmotiv überlebt: der Fetischcharakter der Ware ist nicht subjektiv irrendem Bewusstsein angekreidet, sondern aus dem gesellschaftlichen Apriori deduziert, dem Tauschvorgang.“ (Th. W. Adorno, Negative Dialektik, S. 188). Weder fällt aus Marx’ Analyse der objektiven Grundlagen falschen Bewusstseins der Aspekt heraus, dass es durchaus auch „subjektiv-irrendes“, klassensubjektivistisches bürgerliches sein kann, noch wird der Tauschvorgang als gesellschaftliches „Apriori“ gesetzt, noch aus diesem bloß „deduziert“.

Erkannte Zwangsläufigkeit bürgerlicher ideologischer Prozesse hat Marx niemals daran gehindert, sie vom Standpunkt proletarischem Klassenbewusstseins als subjektivistische, irrige Anschauungen zu verurteilen. Als materialistisch und proletarisch parteilicher Denker hat Karl Marx mit der wissenschaftlichen Analyse stets das sozialistische Werturteil mitgefällt. Auch über bürgerliche Ideologie.«

8/24 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, S. 202, 203.

9/25 Ebenda, S. 203.

10/26 Ebenda, S. 204.

11/27 Ebenda, S. 201, 203. »In Terminologie und Konzeption bringt es Adorno hier – trotz all seiner Reservationen gegen die sonstige bürgerliche Soziologie – nur zu einer Rezeption einer betagten Leitidee des Nestors der spätbürgerlichen deutschen Soziologie, Leopold von Wieses. In „Der Mensch als Mitmensch“ (Bern 1964) fasst er sein Resultat sechzigjähriger Tätigkeit und Publizistik in dem Schluss zusammen: „… dass Brechung des Kollektivegoismus und die Verminderung des Leids die Hauptaufgaben sind.“ Bekämpfen will v. Wiese das „niederziehende“, nicht das „emporhebende“ Leid. Instrument dieses Kampfes gegen das „herabziehende“ Leid, gegen „Gram“ und „Grauen“, des sozial verursachten Leidens durch Egoismus verschuldet, sei ein neuer kategorischer Imperativ: „Alle sozialen Gebilde müssen dem Gesetz unterstehen, einander in den Innen- und Außenbeziehungen so wenig Leid wie möglich zu bereiten.“ (S. 51, 52).«

Quelle: Philosophie der Revolution, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie zur Herausbildung der marxistisch-leninistischen Theorie der Revolution als materialistisch-dialektischer Entwicklungstheorie und zur Kritik gegenrevolutionärer Ideologen der Gegenwart. Autor: Otto Finger. Vgl.: 2.3. Adorno über Materialismus, in: 2. Kapitel: Existenzialismus, Strukturalismus, „Kritische“ Theorie – Scheinkritizismus, pseudorevolutionäres Denken und Materialismusfeindlichkeit.

12.06.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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